Brücke erwacht aus Dornrößchenschlaf

Brücke erwacht aus Dornrößchenschlaf

Über 60 Jahre lang lag die Eisenbahnbrücke zwischen Neurüdnitz  und dem polnischen Siekierki im Oderbruch im Dornröschenschlaf. Einst war die längste Oderbrücke wichtiger Bestandteil der Eisenbahnstrecke Berlin mit dem ganz im Osten liegenden Königsberg. Bereits 1892 ging die erste gemeinsame Brücke für den Eisenbahn- und Straßenverkehr in Betrieb. Um dem rasant steigenden Eisenbahnverkehr gerecht zu werden, wurde 1930 eine zweite parallele Brücke nun nur für den Eisenbahnverkehr in Betrieb genommen. Am 15. April 1945 sprengten deutsche Truppen vor der heraneilenden Roten Armee den über die Oder führenden Brückenteil. Der weitaus längere Teil über das heutige polnische Poldergebiet blieb als Brückenstumpf stehen. 

Der Zweite Weltkrieg war zu Ende. Aus dem heißen Krieg wurde ein kalter Krieg zwischen den Gesellschaftssystemen und Militärblöcken. Es gab Situationen, da drohte dieser Krieg offen auszubrechen. So entschieden sowjetische Militärstrategen die Brücke für Militärtransporte auf der Schiene 1954 wieder aufzubauen. Im Bedarfsfall sollten über diesen Schienenstrang schnell Panzerregimenter Richtung Westen verlegt werden. Es war eine Geisterbrücke, kein einziger Zug passierte jemals diese Brücke. 1999 wurde die Strecke von der Deutschen Bahn offiziell entwidmet.

Schon längst hatte die Natur die Brücke und das umliegende Naturschutzgebiet auf polnischer Seite zurück erobert. Davon zeugte ein Uhu-Pärchen, das auf einem Brückenpfeiler nistete. 

Seit 2004 gab es auf deutscher wie auch polnischer Seite Bestrebungen, die Brücke als verbindendes Element zwischen Deutschland und Polen für Fußgänger und Radfahrer wieder passierbar zu machen. Es wurde ein steiniger und langer Weg. Die Brücke erhielt einen Namen: Europabrücke. Schnell sollte es gehen, eine neue Oderquerung zu ermöglichen, so häufig sind Brücken über die Oder und die Neiße nicht. Nicht nur das streng geschützte Uhu-Paar stand einer schnellen Realisierung im Wege. Doch jetzt gibt es Licht am Ende des Tunnels. Der polnische Teil der Europabrücke ist fertig restauriert. Vor wenigen Wochen eröffnet, können Besucher von Siekierki aus auf die Brücke. Sie ist toll geworden, mit Sitzgelegenheiten, Informationstafeln und einer zweigeschossigen Aussichtsplattform über der Brücke. Das alles in einem einzigartigen Naturschutzgebiet. 

Insgesamt ist die Europabrücke 660 Meter lang. Von polnischer Seite kommt man nun bis an die Oder heran. Hier geht es nicht weiter. Hier beginnt der Teil der Brücke, der von deutschen  Bauleuten und Handwerkern restauriert werden soll. Aber noch sieht das alles sehr traurig aus. Fertig soll nun die deutsche Brückenseite im Frühjahr nächsten Jahres sein. Viel zu spät, meine ich.

Es gibt noch eine interessante Geschichte zu dieser Brücke zwischen Neurüdnitz und Siekierki. Im sowjetischen Generalstab machte man sich Gedanken. Was ist, wenn in einem erneuten Krieg die Brücke wieder zerstört wird? 1984 erging deshalb der streng geheime Befehl, unweit der Brücke einen Reserveübergang über die Oder zu schaffen. Am Bahnhof Wriezen, Gleis 3, begann die 12,45 Kilometer lange normale Strecke Richtung Oderbrücke. Zwei Kilometer vor der Oder zweigt nach sechsmonatiger Bauzeit ein geheimes Gleis rechts ins Oderbruch ab. Es endet unmittelbar am Oderufer, etwa einen Kilometer südlich der Europabrücke. Am Wasser wurde ein bewegliches Gleisstück je nach Wasserstand gebaut, eine ingenieurtechnische Meisterleistung. Gleiches geschah auch auf polnischer Seite. Die Gleisanlagen waren in keiner Karte verzeichnet und teilweise getarnt. Im Jahr 1995 traf ich in Wriezen unweit der Brücke die beiden Eisenbahner der DDR-Reichsbahn Karl Rittwag, ehemaliger Chef der Bahnmeisterei Wriezen und Günter Zettier, Leiter der Güterabfertigung. Sie waren im Sommer 1984 dabei, als bei einem Manöver ein mit Panzern beladener Zug die in kürzester Zeit gebaute Pontonbrücke aus Polen kommend überquerte. Das Gelände war weiträumig abgesperrt, die Oder für den Schiffsverkehr gesperrt und das ganze Spektakel dauerte sechs Minuten. Die Eisenbahner erinnerten sich: „Dabei waren höchste Militärs des Warschauer Paktes und der SED-Bezirksspitze. Das ganze endete in einem großen Gelage. Bei dieser einmaligen Flussüberquerung blieb es.“ Noch um die Jahrtausendwende zeugten Rampen für Panzer am Gleis, Anker der Pontonbrücke an der Oder und ein das geheime Gleis querender Feldweg mit Andreas-Kreuz, das vor nichts warnen musste, von dieser Strecke, die es offiziell nicht gab.