Verstrahlte Friedensfahrt

Verstrahlte Friedensfahrt

Ich wurde beobachtet. Von Wladimir Iljitsch Lenin. Sein überlebensgroßes Bild hing an der Fassade des Hochhauses des Parteikomitees der KPdSU der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Hier auf dem Creschtschatyk, der bis zu 100 Meter breiten Prachtstraße in Kiew begann vor 35 Jahren am 06. Mai 1986 mit dem Prolog die 39. Internationale Friedensfahrt. Eigentlich startete die Friedensfahrt immer im Wechsel in Prag, Warschau und Berlin und führte auch nur durch die DDR, die CSSR und Polen. Anläßlich des 40. Jahrestages der Befreiung von der Naziherrschaft im Jahr 1985 wurde der ganze Sportlertross nach dem Prolog in Prag nach Moskau geflogen um hier drei Etappen zu absolvieren. Das schien den sowjetischen Sportfunktionären so gut gefallen zu haben, dass sie  für das Folgejahr einen Start in der Sowjetunion forderten. Ihr Wunsch war natürlich Befehl und so kam es zum Startort Kiew.

Damals arbeitete ich als Fotoreporter in der Auslandsillustrierten „Freie Welt“ im Berliner Verlag. Traditionell druckte die Freie Welt jedes Jahr zur Friedensfahrt eine Doppelseite mit den Porträts aller teilnehmenden Radsportler, ein begehrtes Sammelobjekt.  Als Fotostudio diente immer die Hotellobby. Das war eine sehr stressige Aufgabe, alle über 120 Rennfahrer zusammen zu bekommen. Es durfte ja keiner fehlen.

1986 in Kiew war alles anders. Anfang Mai schickte mich die Redaktion nach Kiew. Nichts war mehr normal. Wenige Tage vorher, am 26. April explodierte in der Nacht der Reaktor-Block 4 des Kernkraftwerkes Tschernobyl, nur knapp 100 Kilometer von Kiew entfernt. Nach offiziellen sowjetischen Angaben war es nur ein kleiner Unfall, keine Gefahr, keine radioaktive Strahlung. Dabei hatte die radioaktive Wolke schon Skandinavien und auch beide Teile Deutschlands erreicht. In der DDR wurde die Wahrheit auch zurück gehalten. In Kiew sah ich überall Leute mit Geigerzählern. Beim Betreten des Hotels wurde ich gemessen. „Alles in Ordnung, keine Strahlung, nur zur Vorsicht“, war dann der Kommentar. Konkrete Informationen gab es nicht. Einmal wurde ich am Verlassen des Hotels gehindert. Ich sollte mir eine Jacke anziehen, die ich ausschütteln konnte. 

Viele Mannschaften sagten ihre Teilnahme an dieser Friedensfahrt ab. So auch die Mannschaft der Bundesrepublik. Aus nichtsozialistischen Ländern waren nur Frankreich und ein halbes Team aus Finnland dabei. Fahrer aus den damaligen sozialistischen Ländern hatten keine Wahl. Sie mussten teilnehmen. Auch die Rennfahrer aus der DDR machten sich Gedanken um ihre Gesundheit. Olaf Ludwig, der spätere Gesamtsieger, erzählte später, wie SED-Sportfunktionäre sie vor der Reise nach Kiew vor die Wahl stellten, entweder ihr startet in Kiew oder ihr fahrt nie wieder ein Radrennen.

Nun einige Informationen zu den folgenden Fotos. Letzte Vorbereitungen vor dem Start zum Prolog, einem sieben Kilometer langen Einzelzeitfahren. Da werden nochmal die Muskeln eines sowjetischen Radsportlers auf einem Motorrad gelockert. Olaf Ludwig aus der DDR, Gesamtsieger der Tour 1986, bekommt Tips des DDR-Trainers Wolfram Lindner. Ein Mädchen aus Kiew hält das Schild der französischen Mannschaft. Thomas Barth geht von einer Rampe vorbei an vielen Fotografen auf die Strecke und wird am Schluss Tagesvierter. In Kiew folgten dann noch ein Mannschaftszeitfahren und eine Etappe Rund um Kiew. Vor dem Start gab es noch ein Konzert einer Militärkapelle vor dem Denkmal der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, natürlich mit Lenin. Auf dem Creschtschatyk waren Imbissstände aufgebaut. Die Menschen saßen auf Bänken in der Frühlingssonne. Radioaktivität spürt man nicht, sieht sie nicht, hört sie nicht. Unter dem mächtigen Denkmal der Völkerfreundschaft, gewidmet der Freundschaft zwischen Ukrainern und Russen, treffen sich Spaziergänger. Der Metallbogen hat einen Durchmesser von 60 Metern. Die Besucher können durch den Bogen den Fluss Dnepr entlang Richtung Norden schauen, dort liegt Tschernobyl.

Kiew, seine Bewohner, die internationalen Sportler und auch ich hatten Glück. Die große Katastrophe blieb der Stadt erspart. Der Wind wehte die radioaktive Wolke Richtung Nordosten mit besonders schlimmen Auswirkungen in Teilen der Ukraine, Weißrusslands. Auch in der DDR wurde wie in der Sowjetunion alles unternommen, die Ursachen und Folgen der bisher größten vom Menschen verursachten Nuklearkatastrophe herunter zu spielen und zu vertuschen. Erst nach der Rückkehr in Berlin erfuhr ich von den Ursachen und Ausmaßen der Katastrophe, nicht durch DDR-Medien. 

Übrigens, auch in Kiew war es mir gelungen, alle Teilnehmer der Friedensfahrt zu fotografieren. Die Aufgabe war viel leichter als in den Jahren zuvor, waren es doch 1986 nur 64 Radsportler. Auch wäre es es nicht schlimm gewesen, wenn ich einen Fahrer nicht erwischt hätte. Das lag am Donnerstag. Jeden Donnerstag um 10 Uhr mussten die Chefredakteure aller Medien aus der ganzen DDR in der Abteilung Agitation und Propaganda des ZK der SED antreten. Dort bekamen sie von „oben“ gesagt, über was wie berichtet werden soll und was auf keinen Fall veröffentlicht werden darf. Zu letzterem gehörte meine Kiew-Reise. Eine Internationale Friedensfahrt, bei der über die Hälfte der Mannschaften einen Start in Kiew verweigerten, durfte auf keinen Fall in der Freien Welt erwähnt werden. Schluss, aus. Sicher hat sich der eine oder andere Sammler der Friedensfahrt-Doppelseite geärgert. 

Im Zusammenhang mit meiner Kiew-Reise 1986 fallen mir zwei Zitate von Michail Sergejewitsch Gorbatschow, damaliger Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, ein. 1986 bezeichnete er in einer öffentlichen Stellungnahme die westliche Berichterstattung über das Unglück in Tschernobyl mit angeblich Tausenden von Toten als „zügellose antisowjetische Hetze“. 20 Jahre später schrieb Gorbatschow in einem Buch, Tschernobyl sei vielleicht mehr noch als seine Perestroika die wirkliche Ursache für den Zusammenbruch der Sowjetunion.