Sowjetunion / Russland

Sowjetunion

1969, im Alter von 18 Jahren, war ich das erste Mal in der Sowjetunion, in der Hauptstadt Moskau. Ein Onkel studierte dort und lud mich ein. In der DDR aufgewachsen, zu dieser Zeit ohne Reisemöglichkeiten, überwältigten mich Größe und das pulsierende Leben dieser Weltstadt. Zehn Jahre später folgten dann viele Reisen in das Land, das im Westen in Brest an der polnischen Grenze begann und erst nach fast 10 000 Kilometern im Osten in Kamtschatka endete.

Während dieser Reisen, deren Routen fest vorgegeben waren und auf deren Einhaltung die ständigen Begleiter stets achteten, lernte ich Menschen kennen, die trotz der unsäglichen Vergangenheit, der Zeit stalinistischer Repressionen und des Zweiten Weltkrieges, ihren Lebensmut, ihren Humanismus nicht verloren hatten. Unvergesslich die Stunden mit dem weißrussischen Schriftsteller Bykau in Minsk, die langen Abende mit Journalistenkollegen im kasachischen Zelinograd oder die Stunden mit unerwartet offenen Menschen im Urwald an der finnischen Grenze in Karelien. Sie sind ein großes Risiko eingegangen. Aber ich musste auch Menschen fotografieren, die meinten, als Parteisoldat brauche man keinen Kopf. Die Partei sagt was richtig ist, nachdenken ist schädlich für das Land.

2010 war ich wieder einmal im Ural, in Perm, der östlichsten Millionenstadt Europas, um dort Fotos auszustellen. In dem Jahr sogar die Kulturhauptstadt Europas. Ich hatte dort die Gelegenheit, den ein paar Autostunden entfernten Gulag Perm 36 zu besichtigen. Es soll das einzige Straflager sein, das in seinem Originalzustand noch erhalten ist. Unfassbar für mich zu erfahren, dass neben Mördern und anderen Schwerverbrechern der größte Teil der Gulaginsassen politische Häftlinge waren, und das bis zu seiner späten Schließung im Jahr 1987.

Nun soll, oder ist, dieser Ort für Besucher nicht mehr zugänglich und soll teilweise sogar abgerissen werden. Statt Geschichte aufzuarbeiten, wird sie verborgen, hinter Stacheldraht oder gar zerstört. Jahrzehnte russische und sowjetische Geschichte werden ausradiert, geht ja ganz einfach. Das ist ein Trugschluss.

Eines bleibt für mich unvergesslich bei den Reisen in die Sowjetunion, die Herzlichkeit der Menschen, nicht die der Bestellten. Menschlich sein und so handeln, das habe ich bei vielen gespürt.